Wandel und Veränderungen im zeitlichen Verlauf, ist die leitmotivische Fragestellung meines künstlerischen Tuns. Dabei interessierte mich nicht die Totale, sondern der prägnanten Ausschnitt, der aber eindeutig auf das Ganze wieder verweist. Schon während meines Studiums in Braunschweig haben auf mich stillgelegte Fabriken eine unwiderstehliche Anziehung ausgeübt, besonders, wenn in ihnen noch Montageelemente zu finden waren. Die Vorstellung, dass gleich jemand durch die Tür tritt, auf einen Knopf druckt und alles wieder in Bewegung setzt, hat mich fasziniert. Ein Stillstand, der durch einen Impuls in Gang gesetzt werden kann.
So finden sich in meinen Arbeiten auf Papier oder Leinwand, im Objekt oder in der Rauminstallation, situative Ausschnitte verknüpft mit Bewegungsabläufen. Bewegung ist ein zentrales Thema in meiner Kunst. Das aktuelle Leben der westlichen Industrie- und Mediengesellschaft ist durch Bewegtheit, Wandel und Veränderungen gekennzeichnet. Nicht die geschäftige Aktivität ist gemeint, sondern die Bewegung in Beziehung zur Ruhe.
Susanne Immer
Raumzeichnungen
... Gesehene Strukturen, erspürte Bedingungen oder Kräfte übersetzt Susanne Immer in farbig reduzierte Zeichnungen auf Papier oder Leinwand, als Objekt im Raum oder als Installationen. Dabei kombiniert sie Form verfestigende mit Form auflösende Momente. Stabilität und Labilität treten in ein Wechselspiel. Strukturbildung und deren gleichzeitige Auf-Lösung, Begrenzung und das Darüberhinausschreiten in die Unbegrenztheit sind ein Susanne Immer wieder und wieder beschäftigendes Thema.
Sie interessiert sich formal für das Verhältnis von Linie, Licht und Fläche – von Körper und Raum. Raum, Zeit und Energie, als die drei die menschliche Existenz bestimmenden Elemente stehen im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Dabei spielt die Veränderungen, die Transformationen, also die Bewegung in einem festen Zeit-Raum-Gefüge eine wesentliche Rolle. Energiebündel, Energiefelder, Übertragung von Energie, noch ruhende Energiezustände, die aktiviert werden können.
Es entstehen Zeichnungen und „ Raumzeichnungen“, also Objekte, die Susanne Immer als in den Raum gesetzte Zeichnungen versteht. …Dynamisch angelegte Linienführungen in ihren Arbeiten visualisieren diesen künstlerischen Ansatz. Die neusten Objekte, können durch eine leichte Berührung mit der Hand oder durch den Wind in Bewegung versetzt werden. Jede Arbeit hat ihren eigenen, ganz spezifischen Bewegungsrhythmus. … Die Vollführung der Bewegungen gestaltet sich gemäß den jeweiligen Formverläufen individuell aus. Die Plastiken entfalten darin ihren eigenständigen Charakter – sie zittern, schwirren, flattern, wackeln, schweben, schwanken, pendeln, kippen oder rotieren. So fließen, schweben oder flattern Stahlbänder wie kalligrafische Zeichen scheinbar losgelöst in den Raum. Mal rotieren sie konzentrisch um sich selbst, mal greifen sie weit aus. Sie gewähren Durchblicke, entwickeln tänzerische Leichtigkeit oder manifestieren im Gegenzug auch wieder Schwere und Verdichtung. ….Bewegungslinien im Raum.
Dr. A. Eichler, Leiterin der Museen Wetzlar
Denken und Wahrneghmung als Orte der Kunst
Das Werk von Susanne Immer ist ein zeichnerisches. Ihre Arbeiten verstehen sich als in den Raum erweiterte Zeichnungen. Diese räumliche Erweiterung kann sowohl durch eine bewusste künstlerische Setzung in der Dreidimensionalität geschehen aber auch seitens des Betrachters vollzogen werden, indem er den gegebenen Bildraum als weiterzuführendes Fragment erkennt.
Raum, Zeit und Energie sind hier die zentralen Aspekte, die durch Visualisierungen prozesshafter Geschehnisse erfahr- und erkennbar werden. Stets wird an eine aktive Rezeption appelliert. Bei aller Konturschärfe des künstlerischen Ansatzes wahren die Arbeiten ihre Offenheit, das ihnen vom Betrachter subjektiv Entgegengebrachte zu reflektieren und zu integrieren.
Begrenzung, Verdichtung und Öffnung des Bildraums, Anklänge an tragende Architektur, dynamischer Ausdruck energetischer Zustände: in den Werken präsente und lesbare Qualitäten, die vom linearen Duktus transportiert und vermittelt werden. Farbe hingegen bleibt der Form in dienender Funktion untergeordnet.
Indem sie sich als Ausschnitte aus größeren, bildlich noch nicht manifest gewordenen Zusammenhängen erschließen, verweisen die Zeichnungen auf den sie umgebenden Raum. Dieser aber kann ergriffen und strukturiert werden durch einen tätig werdenden Betrachter, der an die im Bild vorhandenen Assoziationen anknüpft, sie imaginativ fortspinnt und in bewusster Überschreitung der physischen Bildgrenzen den Umraum gestaltend einbezieht.
Raum bekommt somit eine eigene, neue Qualität. Er bleibt weder ein sinnlichkeitsfernes Koordinatenkonstrukt der Geometrie, noch muss er mit den jeweils vorgefundenen Gegebenheiten eines konkreten Ortes identifiziert sein. Vielmehr wird Raum als ein fluides Medium erfahrbar, das durch schöpferische Rezeption individuell geprägt, mit Bewusstsein angereichert werden kann.
Dieser vom Betrachter in die Wechselwirkung mit den Arbeiten einzubringende Beitrag öffnet auch den Blick auf die Art der Anwesenheit von Zeit und Energie in den Arbeiten von Susanne Immer.
Die Objektserie „Auflösung“ erweist sich hier als anschauliches Exempel. Als Bild gelesen spielen die mit Gummiringen umwickelten Kunststoffblöcke mit landschaftlichen Assoziationen. Im Laufe der Zeit, je nach Raumklima, kommt es aber zu Materialermüdung, die als künstlerischer Parameter bewusst einkalkuliert wurde. Die Gummiringe reißen, die linearen „Horizonte“ lösen sich urplötzlich auf. Die bei der Fertigung eingebrachte und aufgestaute Energie offenbart ihr wandlungsfähiges Wesen in einem zeitlich kaum bestimmbaren kinetischen Ausbruch, der meist nur im Nachhinein durch seine sichtbaren Vermächtnisse in Form herabhängender oder zu Boden gefallener Gummifetzen festzustellen ist. Aussehen und Ausdruck der Arbeit verändern sich somit im zeitlichen Fortgang.
Mit einer größeren Materialstabilität sind die Objekte „geh!rollt“ versehen. Sie fordern die Vorstellungskraft des Betrachters heraus, das bündelnde gelbe Band zu durchtrennen und so die verdichtete, auf Befreiung wartende Energie der schwarzen Rollen zu entladen und dynamisch in den Raum zu entfalten.
Auch die Elemente der Installation „Navigation“ verharren äußerlich in Ruhe, erzeugen aber die Anmutung geschäftiger Bewegung und lassen – dies ein Verweis auf die Freiheit der individuellen Rezeption – an die turbulente Bewegung von Gasmolekülen denken, die kinetischen Druck erzeugen. Auffallend hierbei ist, wie Susanne Immer mit sensiblem Gespür für Proportion und Gleichgewicht im Verbund mit einem streng reduzierten Materialeinsatz hohe energetische Dichte zu erzeugen vermag.
„inside/outside“ lässt die Wahrnehmung pendeln zwischen der Empfindung von akkumulierter Kraft und einem elementaren, fast unbändigen Trieb zur Bewegung. Die titelstiftende topologische Wechselwirkung von Außen- und Innenseite tut sein übriges, den Betrachter dazu aufzurufen, vor seinem inneren Auge jeweils alternative Szenarien abrollen zu lassen.
Wie Vektoren, die Stärke und Richtung von Kräften anzeigen und in ihrer Gesamtheit ein energetisches Feld beschreiben, muten die roten Kunststoffstäbe in der Arbeit „jump“ an. Man kommt nicht umhin, die im wörtlichen Sinne zugrundeliegende Kugel, als den eigentlichen Verursacher der sichtbar werdenden Inhomogenität dieses „Feldes“ anzunehmen und sie in einer permanenten, vielleicht rotierenden Bewegung vorzustellen.
Gelingt es diese und andere Arbeiten nicht nur äußerlich anzuschauen, sondern auch innerlich zu ergreifen und ihrer immanenten Aufforderung nachzukommen, sie als bewegte, prozessuale Gefüge zu erleben, wird es möglich, das in ihnen angestaut vorhandene energetische Potential zu erspüren und zu aktivieren.
Indem er mit seiner bildhaften Vorstellungskraft die Werke dynamisch in Gang setzt, ihre innewohnende Kraft freisetzt und diese unmittelbar erlebt, wird der Betrachter zum Urheber und Zeugen eines Vorgangs der Umwandlung, den er selber aktiv und bewusst vollzieht. Er tritt mit den Arbeiten in einen wesenhaften, ergebnisoffenen Dialog, dessen stringenter Fortgang jedoch nie die Gefahr situativer, letztlich beliebiger Deutungsmuster fürchten muss, vielmehr von der klaren inneren Ausrichtung der Werke orientiert und geleitet werden kann. Denken und Wahrnehmung des Betrachters werden somit zum eigentlichen Ort der Kunst.
Florian Stegmaier, Städt. Galerie im Kornhaus, Kirchheim unter Teck